Niemand kann mir meine Würde nehmen | Lutz Deckwerth

Ein Fachartikel aus integraler Sicht zur ARD Doku über Amazon und Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes.

Längst ist es wieder ruhig geworden. Eine der erfolgreichsten Dokumentationen der ARD gerät in Vergessenheit. Und die Fassade des größten Versandhauses der Welt ist wieder in Ordnung. Zur Erinnerung: Mitte Februar deckt eine ARD Reportage auf, „was sich hinter der Fassade von Amazon.de verbirgt und wer dafür zahlt, dass die schöne neue Warenwelt des Internethändlers so billig zu haben ist.“ (ARD Programmankündigung) Ein Sturm der Entrüstung bricht über die katastrophalen Arbeitsbedingungen bei Amazon los. „Ekelerregend, menschenverachtend, unwürdig“ – so lauten die Kommentare auf den Social Media Plattformen. Der Onlinehändler reagiert und kündigt die Verträge mit einer Zeitarbeitsfirma und einem Sicherheitsdienst. Darauf folgen Angriffe ganz bestimmter Medien und bezichtigen die Autoren der Dokumentation der Falschdarstellung. Amazon „Opfer“ wirft ARD Lüge vor – so die Schlagzeile der Bild. Angriff scheint nicht gleich Angriff zu sein, solange wir uns auf der Seite der Gutmenschen wähnen. Das Prinzip, der Schuldige ist gefunden, das Urteil wird gesprochen, setzt seine Reise durch die Jahrtausende fort. Was heute Facebook ist, war zu anderer Zeit der Marktplatz, wo es üblich war, die Schuldigen vorzuführen und vor aller Welt zu bestrafen.

Haben wir noch nichts dazugelernt? Achtung statt Verachtung

So schnell wie der Shitstorm im Netz gegen Amazon los gebrochen ist, genau so schnell ist er auch wieder verklungen. Wir gehen zur Tagesordnung über. Die meisten der verschreckten Konsumenten bestellt wieder beim größten Onlineversandhaus. Der unpersönliche Kauf per Klick geht schnell, ist bequem und preiswert. Dabei hätte diese Dokumentation, ob in allen Details wahr oder nicht, Grundlage einer gesellschaftlichen Diskussion sein können. Was bedeutet dieser Satz ganz oben in unserem Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“? Hat jeder Mensch das Recht, geachtet, respektiert und angesehen zu werden? Gilt das für Arme wie für Reiche, für Junge wie für Alte, für Gesunde wie für Kranke, für Menschen christlichen wie muslimischen Glaubens? Seit wann diskutiert die Menschheit über ihre eigene Würde.

Die Würde des Menschen im Wandel der Zeit

Nach christlichem Weltbild beruht die Würde des Menschen auf seiner Rolle als „Ebenbild Gottes“: Der Schöpfer hat ihn im Gegensatz zu allen anderen Wesen nach seinem Bild geformt.

Der deutsche Idealismus rückt statt der christlichen Gottesebenbildlichkeit die so genannte Vernunftnatur des Menschen in den Mittelpunkt: „Der Mensch, da er Geist ist, darf und soll sich selbst des Höchsten würdig achten.“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel)

Erst aus Sicht des deutschen Materialismus beruht die Würde des Menschen auf dessen „sittlicher Autonomie“ (Immanuel Kant). Der Mensch kann sich über seine natürlichen Triebe erheben und von moralischen Normen leiten lassen. „Wer sich zum Wurme mache, darf nicht darüber klagen, mit Füßen getreten zu werden.“ Bei Kant findet sich auch der Hinweis, dass jeder Mensch an sich ein Gewissen hat, welches ihm sagt, was richtig und falsch ist.

Es braucht noch einmal hundert Jahre bis das Ziel eines menschenwürdigen Daseins als Randnotiz (Artikel 151, Abschnitt 5) in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 auftaucht. In den nationalsozialistischen Reichsgrundsätzen heißt es dagegen: „Recht ist, was dem Volke nützt!“

 Wortbedeutung Würde und Wert

Die Menschheit braucht noch viele Jahre, um sich von Sozialdarwinismus,  Rassismus und Antisemitismus zu verabschieden, Der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht heute im Grundgesetz. Er ist kein einklagbares Recht, eher eine Aufforderung an jeden Bürger, nicht nur an den Staat im Umgang mit seinen Bürgern. „Würde“ (althochdeutsch wirdi; mittelhochdeutsch wirde) ist verwandt mit dem Wort „Wert“. Im Kern ist Würde nichts anderes als ein achtungsgebietender Wert. Neben dem äußeren Wert (Vorrangstellung, Ansehen, Anerkennung) gibt es den inneren Wert (Freiheit, Selbstbestimmung, Sinnhaftigkeit) und ein Verhalten, das einem Wissen um diesen Wert entspricht. So sprach der Philosoph Immanuel Kant von einer „universellen Würde“, die jedem einzelnen Menschen innewohne. „Der Mensch ehrt die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person.“

Der integrale Ansatz und die Würde des Menschen

Der zuletzt zitierte Satz von Kant weist darauf hin, dass die Würde des Menschen etwas ist, das jeder besitzt und das nicht außerhalb von uns existiert. Und dennoch gibt es eine „universelle Würde“, die Würde der Menschheit. Somit bin ich ein Teil des Ganzen. Ganz gleich, wie „ohne Würde“ (ekelerregend, menschenverachtend, unwürdig) der Versandhausriese Amazon seine Mitarbeiter behandelt haben mag, stellen wir uns einfach mal die Frage: “Wie handle ich selbst?“

Auch wenn wir nie bei Amazon etwas bestellt haben und diese Praktiken „ver-ur-teilen“, ist doch jedes „Ur-teil“ der Versuch, uns zu separieren, uns auf die Seite des guten Menschen zu stellen. Wäre nicht ein konsequentes Handeln eine sinnvolle Alternative, anstatt beim Onlinehändler wieder beim Buchhändler zu bestellen. Mit anderen Worten: In jedem von uns steckt ein bisschen Amazon. Bertold Brecht hat es in seiner Dreigroschenoper drastischer ausgedrückt: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“  Es ist und bleibt der einfachere Weg, auf andere mit dem Finger zu zeigen, schwerer dagegen ist der ehrliche Blick in das eigene Spiegelbild.

Und so muss sich jeder selbst die Frage beantworten, ob er jeden Tag nach dem Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (10. Dezember 1948) lebt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Dieser Gedanke ist nicht erst in der Neuzeit entstanden. Schon Platon hat in seinen vier kardinalen Tugenden eine bis heute gültige Alternative aufgezeigt und das schon vor mehr als 2000 Jahren. Seine Empfehlung lautet:

Sophia:       der Weisheit des Herzens zu folgen

Virtus:         Tapferkeit und Mut zu leben

Constantia: Besonnenheit walten zu lassen

Justitia:       Achtung und Gerechtigkeit dem Anderen gegenüber sprechen zu lassen.

Autoren: Theresia Maria Wuttke (Vorstandsvorsitzende Theos Consulting AG) und Lutz Deckwerth (Journalist, Medientrainer und integraler Coach)


 

2 Comments

  1. Max Kuckucksvater 03/26/2013, 15:59 Antworten

    auf den Satz „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ baut auch der Paragraph 3 im GG auf.

    Zur Nachlese:

    (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

    (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.

    (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

    Doch von Gleichberechtigung und dass niemand aufgrund seines Geschlechtes benachteiligt werde, kann nicht die Rede sein. Wir vom Kuckuckskindthema betroffene dürfen dies tagtäglich erleben. Deutsche Gesetze gewähren den Kuckucksmüttern defacto Immunität und treten die Rechte der Kuckuckskinder, Scheinväter und leiblichen Väter mit Füßen.

    Doch was möchte man vom einzelnen Bürger an Rückgrat erwarten, wenn diejenigen, die dem Volk als Vorbild dienen sollten, Korruption und Rückgradlosigkeit vorleben und zeigen, dass man damit vor und auch danach mit Erfolg belohnt wird.
    Siehe alleine die Liste der Plagiatsdoktortitel derer, die bis heute aufgeflogen sind: Veronica Saß (Juristin), Silvana Koch-Mehrin (FDP), Matthias Pröfrock (CDU), Uwe Brinkmann (ehem. SPD), Bijan Djir-Sarai (FDP), Jorgo Chatzimarkakis (FDP), Margarita Mathiopoulos (FDP, Unternehmerin, Politikwissenschaftlerin), Siegfried Haller (SPD, damaliger Jugendamtsleiter der Stadt Leipzig), Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CSU), Annette Schavan (CDU)
    Oder der Millionengagen für Vorträge von Politikern wie zuletzt Peer Steinbrück, dessen Unbestechlichkeit dadurch zumindest in Frage gestellt wird. Wenn Politiker mehr außerhalb des Parlamentes bezahlte Termine wahrnehmen, als im Bundesparlament tätig zu sein, läuft was schief. Verstärkt wird der Eindruck, dass Politiker sich die legale Bestechlichkeit erhalten wollen, indem bis heute das Nebeneinkünfte-Transparenz-Gesetz gegen Abgeordnetenbestechung blockiert wird, obwohl Deutschland sich dazu bereits vor zig Jahren international dazu verpflichtet hat!

    Jeder Einzelne für sich ist gefragt, aus der Haltung der Gleichgültigkeit zu kommen und Aktionen wir Abgeordnetenwatch, „Kinder haben ein Recht auf Identität“ etc. zu unterstützen.

  2. Dragan Mestrovic 03/26/2013, 18:35 Antworten

    Amazon bietet das was der Kunde will und fast zu den Bedingungen des Kunden, also zu unseren.

    Sie schreiben hier über den Spiegel in den wir sehen sollen, Amazon ist der Spiegel.

    Ohne uns Kunden und unsere Ansprüche gäbe es diese Unternehmen nicht und auch nicht sein Vorgehens und Umgangsweise mit Menschen.

    Diese bedienen nur unsere Nachfrage, und seien wir mal ehrlich, keiner von will wirklich wissen oder einsehen das für niedrige Preise irgendwo jemand anders die Zeche zahlt.

    Was sind die Alternativen?

    – Kauft nicht mehr bei Amazon?
    – Sich bei Amazon beschweren?
    – Bei anderen Anbietern kaufen?
    – Eine Petition einreichen?
    – ….was …?

Leave a Comment